„Der Einzelne kann so gut wie nichts bewirken“, hieß es in einem Online-Artikel „Ansichten eines Piloten“, erschienen am 6. Juni 2020 in der renommierten Zeitung „Der Standard“, der mir per Link empfohlen wurde.

In einem gut sechsseitigen Artikel geht es um die Frage, in welche Richtung wir Menschen nach der Corona-Nachdenkpause gehen wollen. Ein lesenswerter Stoff. Der Artikel ist übersichtlich sehr geschrieben: Probleme und Ursachen werden genannt, die Verantwortlichen erwähnt, die Fragen zum Reflektieren gestellt. Aber irgendetwas störte mich gewaltig.

Ein Satz stieß mir sofort ins Auge. Ich blieb eine Weile an ihm hängen und dachte nach. „Der Einzelne kann so gut wie nichts bewirken.“ Ja, das war es! Es war dieser eine Satz!

Ich weiß nicht, was für Sie eine angemessene Reaktion auf so eine Botschaft ist, aber mich hat sie wütend gemacht.

Sind Sie gerade zu Hause? Stehen Sie bitte auf und gehen Sie zu Ihrem Bücherregal. Wenn Sie auf der Straße sind, sehen Sie sich um. Was sehen Sie da? Stehen in Ihrem Regal Bücher von unbedeutenden Menschen, die nichts geleistet, niemanden bewegt und keinem geholfen haben? Sehen Sie auf den Straßen Denkmäler und Mahltafeln derer, die sich durch ihre Ohnmacht ausgezeichnet haben?

Nein. Was haben all diese Menschen gemein? Sie haben etwas bewirkt. Als Einzelne! Ja, so ganz alleine waren sie zwar nicht, denn schließlich hat irgendjemand ihre Bücher gedruckt, verkauft und gelesen und ihnen die Denkmäler aufgestellt.  Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass diese Menschen zuerst etwas Außergewöhnliches aus sich gemacht haben, und erst dann hat sich die Masse zu ihnen hingezogen gefühlt. Sie haben mit ihren Ideen und Taten die anderen entzündet und begeistert. Sie haben die Massen geistig bewegt.

Nun denken Sie bitte kurz nach. Folgt Ihnen jemand? Würden Sie das überhaupt wollen?

Die meisten meiner Leserinnen und Leser glauben wahrscheinlich, dass sie nicht dazu geboren sind, die Massen zu bewegen. Ist das mit Ihnen auch so? Wenn ja, dann denken Sie noch einmal nach: Wer hat Ihnen gesagt, dass man dazu geboren sein muss?

Diese Frage kann ich wohl selbst beantworten: die Familie, die Freunde, der Kindergarten, die Schule, das Fernsehen, das Radio, die Nachbarn, der Partner, die Partnerin und zu guter Letzt der vorhin erwähnte Artikel – der übrigens eine Selbstoffenbarung des Autors ist.

Ich lese diesen Artikel und merke, wie er mein Unterbewusstsein anspricht: Du kannst nichts bewirken, du bist zu klein, zu ohnmächtig, zu unbedeutend … Lass es die großen Damen und Herren richten. Komm, versammeln wir uns alle und sorgen wir dafür, dass sie dies auch tun! Wir müssen einfach mehr fordern …

Aber wann hat das Mehrfordern die Welt retten können? Und was, wenn diese Damen und Herren es doch nicht tun? Was dann? Das hatten wir doch schon!

Ständig verlangen wir von anderen, sie sollen nach unseren Vorstellungen handeln. Damit wir im Nachhinein sagen können: „Ich habe nichts mit dieser Welt zu tun, das waren die anderen.“

Mir reicht´s! Diese Denkweise ist eine Krankheit, aber sie ist heilbar.

Geradeheraus geschrieben: Man kann keine Eigenverantwortung delegieren, und man kann die Selbstdisziplin keinem anderen auferlegen.

Vor 15 Jahren bin ich aus einem sehr verarmten, erbärmlich heruntergewirtschafteten Land ausgewandert. Mit dabei hatte ich ein kleines Plastiksackerl mit dem Notwendigsten, ein Flugticket und drei Münzen: eine Zwei-Euro-Münze, eine Zehn- und eine 20-Cent-Münze, sprich 2,30 €. Das war´s. Keine Sprachkenntnisse, keinen genauen Handlungsplan und keine großen Unterstützer, auf die ich mich im Zielland verlassen hätte können.

Ich wusste, wenn ich es vermassle, habe ich nicht einmal Geld für den Rückflug.

Nein, ich war kein Flüchtling im engeren Sinne. Ich war eine Geflüchtete. Vor Hungersnot und Unterdrückung. Unser Familieneinkommen lag unter 1 € pro Tag, für einen 40-Stunden-Job, wohlgemerkt. Manchmal gab es nicht einmal diesen einen Euro. Es war elendig. Ich hatte kein Hab und Gut, keine Rechte und keine Zukunftsperspektiven.

Na, und?

Ich hatte etwas, das hier – im Westen – immer mehr verloren geht: Hoffnung. Ich war beflügelt von einer Vision, dass ich alles, was ich will, auch erreichen kann. Und ich wollte etwas erreichen.

Glauben Sie, dieser Kraftakt war mir möglich, weil ich gedacht hatte, ich sei klein, ohnmächtig und für ein mittelmäßiges Leben bestimmt?

Menschen, die so etwas behaupten, haben sich selbst aufgegeben, und sie reißen alle anderen mit in den Abgrund.

Aber zum Glück gibt es sie noch: Menschen, die anders denken.

Auch ich hatte Zeiten, da hatte ich die Hoffnung verloren. Und dann gab es immer jemanden, der mit einer kleinen, netten Geste in mir den Hoffnungsschimmer wieder entfacht hat. Es brauchte nicht viel, nur eine Nettigkeit, ein Lächeln, ein Wort, eine kleine Tat.

Denn wenn man einem Menschen, der niemanden und nichts mehr hat, sagt, er kann mehr, er ist kraftvoll genug, dann findet er die Kraft und kann mit ihr Wunder bewirken.

Daher muss ich ausdrücklich darauf bestehen:

Hören Sie damit auf, sich selbst und anderen die Hoffnung zu nehmen! Hören Sie auf, sich selbst und anderen einzureden, man sei zu schwach!

Ich sage Ihnen: Es gibt keine Schwachen, außer denjenigen Menschen, die glauben, sie seien es. Ich bin wütend, zu lesen, zu hören und zu sehen, wie wir Menschen glauben, wir seien es. Ich bin zutiefst traurig, zusehen zu müssen, wie wir nach diesem Glauben leben und somit alles der Mittelmäßigkeit preisgeben.

Ich will das ändern! Damit will ich mich bei denen bedanken, die wussten, wie wichtig es ist, ein Vorbild zu sein. Damals waren meine Taten keineswegs heldenhaft. Ich lief um mein Leben – und das ist einfach.

An meiner damaligen Unternehmung ist eine ganz andere Geschichte magisch: Ich konnte nur deshalb ausreisen, weil mir eine junge Frau geholfen hatte, eine Au-pair-Familie zu finden. Diese Frau war nicht mit mir verwandt, nicht befreundet und hatte auch sonst keinen Nutzen davon, mir zu helfen. Aber sie tat es trotzdem. Und aus eigener Kraft hätte ich diesen Kontakt einfach nicht herstellen können.

Jahre später erzählte sie mir einmal, dass auch ihr eine andere Frau zur Ausreise verholfen hatte. Daraufhin wollte sie ihr aus Dankbarkeit Geld geben, aber diese Frau lehnte das Geld ab. Stattdessen sagte sie: Bedanke dich bei mir, indem du jemand anderem das tust, was ich dir getan habe.

Das hier ist keine Schlepperei-Story, meine Damen und Herren, sondern eine Gute-Tat-Kettengeschichte. Ich kam nur deshalb in den Genuss des westlichen Lebens, weil irgendjemand irgendwann angefangen hat, die Welt in kleinen Schritten zu verändern. Ganz still und leise, ohne zu jammern, ohne sich ohnmächtig und kleinzureden, stattdessen eigenständig mit Taten und Worten und mit guten Absichten. Ich kenne diesen Menschen nicht einmal. Aber dieser Mensch hat mein Leben verändert.

Deshalb saß ich da, las diesen Artikel und ärgerte mich, dass es inzwischen so vielen so leicht fällt, aufzugeben. „In welche Richtung wollen wir gehen?“ … Nein, das ist nicht die Frage! Womit können wir anderen dienen und worin können wir Vorbilder sein? Das sind die Fragen, die uns weiterbringen. Die Richtung ist doch völlig egal. Das hehre Ziel wird die Richtung schon weisen.

Der eigentliche Denkfehler ist, zu glauben, jemand würde es nach unserer Vorstellung tun. Die unübersehbare Wahrheit ist doch, dass sich in der heutigen Zeit fast jeder um sich selbst kümmert. Und daher kümmert sich fast keiner mehr um den anderen. Aber was uns meistens kümmert, ist, ob jemand anderer sich um uns und um die anderen kümmert.

Sagen Sie, stört Sie das nicht: tagein, tagaus sich über andere zu beschweren und sich einzureden, dass man nichts dagegen tun kann?

Ich glaube, das stört Sie: Es stört Sie die zerstörerische Einwirkung auf unsere Natur. Sie leiden darunter, dass es immer noch Gegenden in der Welt gibt, wo Kinder an Krankheiten und Hunger sterben müssen. Sie haben die Kriege auf der Erde satt. Sie  haben was gegen die ungerechte Einkommensverteilung, gegen Korruption und gegen Gier. Sie sind mit der Arbeit der Politiker unzufrieden. Ihnen macht die Ausbreitung von Pandemien Angst.

Ich beobachte die Menschen schon lange und sehe, dass sie das stört. Nur keiner will den ersten Schritt machen. Keiner will der naive, dumme “Gutmensch” sein.

Aber man kann gegen den Krieg tanzen, gegen die Krankheit Sport betreiben, gegen den Hunger mit anderen teilen und gegen die Hoffnungslosigkeit ein Vorbild sein.

Sie sehen keinen Zusammenhang zwischen der Arbeit an sich selbst und dem Zustand der Welt? Fangen Sie doch einfach an, und Sie werden es schon sehen! Lassen Sie sich positiv überraschen!

Wir könnten alles Mögliche tun, wenn wir endlich aufstehen und anfangen würden,  ein anderes, selbstdiszipliniertes, außerordentliches Leben zu leben! Jeden Tag ein Stückchen mehr. Es ist nicht notwendig, gleich die ganze Welt zu retten. Für ein Wunder bedarf es oft nur einer kleinen Tat. Wir wissen nie, wann aus einer Schneeflocke eine Lawine werden wird. Aber wir können die Zuversicht und das Vertrauen haben, dass es passiert.

Was ist? Sind Ihnen Ihre Sicherheit, Trägheit und Bequemlichkeit wichtiger als die Weltrettung? Haben Sie vielleicht gerade keine Zeit?

Wahrscheinlich haben wir aber alle weniger Zeit, als wir denken. Nehmen Sie sich noch heute vor, anderen Mut durch Vorbild zu machen, mit Worten und Taten Hoffnung zu spenden und zu teilen und zu teilen und zu teilen, was immer möglich ist. Teilen Sie das, was Sie können, und nicht das, was Sie nicht können.

Wenn Sie die Welt ändern wollen, dann müssen Sie schön langsam Ihren Allerwertesten in Bewegung setzen.

Übrigens, darf ich vorstellen: meinen Allerwertesten, den hoffnungsvollen und dankbaren Geist. Der mit jeder Herausforderung wachsen und gedeihen darf.

Der nicht nur glaubt, sondern weiß: Nur ein Einzelner kann etwas bewirken!

Autorin: Maia Egger

Foto: Sharon McCutcheon on Unsplash