Heute stehe ich so früh auf, wie ich will. Es ist 8:30 Uhr und ich habe kein schlechtes Gewissen. Ich bin dankbar, dass ich ausgeruht und ausgeglichen aufgewacht bin. Es ist ein Mittwochmorgen. So lebe ich schon etwas länger als der Großteil der Bevölkerung in Österreich. Ich meine nicht den Zeitpunkt des Aufstehens – der ist nicht immer so spät –, sondern die Freiheit, zunehmend das zu tun, was ich tun will. Aber jetzt, durch die Corona-Krise, habe ich die Gewissheit, dass es auch vielen anderen möglich ist, dies zu tun. Wenn auch nicht seit Langem und vielleicht nicht für längere Zeit. Aber dieser Gedanke, dass viele nicht arbeiten müssen und sich neu orientieren können, macht mich glücklich: die Freiheit auf Probe, wenngleich mit Ängsten und Sorgen bestückt. Ich weiß, viele von ihnen sehen es nicht so. Es ist trotzdem gut. Vielleicht überdenkt die eine oder der andere den Lebensstil, den sie/er führt, und macht´s ab jetzt anders. Dieser Gedanke wärmt mich von innen …

Ich will laufen gehen. Das Wetter ist sonnig, aber die Luft ist kalt. Ich ziehe mir die Sportkleidung an und denke mir nichts dabei. Ich gehe ins Zimmer, wo meine Turnschuhe stehen, ziehe sie an und binde die Schnürsenkel zusammen. Dann stecke ich mir die Kopfhörer ein und lasse mein Hörbuch laufen.

Einen Kuss für meinen Mann und einen freundlichen Blick für meinen Mops. Ich freue mich auf das Laufen. Es geht los und es wird toll!

Mit jedem Schritt geht es mir besser, ich fühle mich lebendig und echt. Es gibt mich, im Hier und Jetzt. Ich weiß es. Auch wenn ich davon ausgehen muss, dass mich heute niemand auf meinem Weg sehen wird – bis auf die ältere Nachbarin, die hinter dem Vorhang aus dem Fenster schaut, wie sie es immer tut, wenn ich an ihrem Haus vorbeilaufe –, denn es ist zu kalt.

Ich laufe über eine kleine Brücke, dann an dem zartgrünen Weizenfeld vorbei, am Rand des Waldes entlang bis zum Ufer des Sees. Dort bleibe ich immer stehen und mache mein Krafttraining.

Heute, wie so oft in letzter Zeit, begleitet mich eine kindliche Freude. Ich weiß nicht … so eine verbotene, naive Freude. Die man kurz haben darf. Aber dauerhaft? Jetzt komme ich mir selbst verrückt vor.

Dann fällt mir auf, dass ich laut lache. Ich sehe mich um: Hoffentlich hat es keiner bemerkt. Nein, da ist niemand. Erleichtertes Aufatmen. Ich denke mir: Wieso versteckst du dich? Du bist so ein Feigling!

Nein, heute keine Selbstkritik. Nicht heute. Es hat viel zu schön angefangen, um gleich jetzt schon den Tag auf diese Weise zu kübeln.

Also lasse ich das Gefühl der Freude sich in meinem Körper weiter ausbreiten. Noch ein bisschen – und ich will weinen, vor Glück. Ich bin einfach dankbar. Wofür eigentlich? Ich fange an, die Dinge aufzuzählen, für die ich dankbar bin: für die Sonne, die mich gerade anlacht, und für den Wind, der mein Gesicht zart streichelt, und für das Grün auf den Feldern. Obwohl wir diese Nacht Minusgrade hatten, ist keines von den Pflänzchen eingeknickt. Und für die Vögel, die laut zwitschern. Nichts wird sie mehr aufhalten. Der Frühling ist da. Dafür bin ich auch dankbar. Ich bin dankbar für die Laufstrecke. Sie ist so schön. Ich bin meinen Muskeln dankbar, sie schmerzen heute gar nicht. Und obwohl ich sehr schnell laufe, schlägt mein Herz regelmäßig und ist meine Atmung total ruhig. Ich wundere mich darüber und bin dankbar. Dann bleibe ich am See stehen und gehe zu dem Baum, bei dem ich die Schummel-Liegestütze mache. Ich lehne mich an den Baum, ich schummle ein bisschen. Ich bin dem Baum dankbar, dass er etwas geneigt gewachsen ist, denn dadurch habe ich einen besseren Halt. Um den Baum herum sind Veilchen gewachsen. Ich will sie nicht tottrampeln, daher halte ich ausreichend Abstand zum Baumstamm. Das macht die Übung noch anstrengender, dafür bin ich den Veilchen dankbar. Ich versuche, in ihre „Gesichter“ zu sehen, aber sie halten ihre Köpfe gesenkt.

Dann gehe ich ganz nah zum Wasser und mache meine Dehnungsübungen. Dabei fällt mir auf, dass ich schon viel früher hätte dankbar sein können. Es ist aber nicht zu spät. Ich schaue meine Turnschuhe an und bin ihnen für ihre Bequemlichkeit und Geschmeidigkeit dankbar. Plötzlich erinnere ich mich an die Verkäuferin, die mich im Sportgeschäft so gut beraten hat. Ich bin auch ihr dankbar. Jetzt kommt mir der Produzent der Schuhe in den Kopf, der Designer, der Manager des Ladens, der Lkw-Fahrer, der die Schuhe transportiert hat. So viele Menschen haben mich glücklich gemacht. Und ich habe es nicht einmal gemerkt. Ich bin ihnen so sehr dankbar, dass mein Herz schon wehtut.

Ich bin dem See dankbar, dass er immer da ist, wenn ich vorbeikomme.

Auf dem Rückweg kommt mir die Nachbarin entgegen. Sie ist Mama und fährt mit einem Kinderwagen spazieren. Die Kleine darin zeigt mit dem pummeligen Finger auf mich und lächelt mich breit an. Obwohl ich nichts damit zu tun habe, bin ich den Eltern dieses Kindes für seine Zeugung dankbar. Es strahlt so viel Liebe aus. Das ist ein kleines Wunder.

Der Hund im Garten des Nachbarn, an dem ich vorbeilaufe, bellt mich an. Ich bilde mir ein, dass auch Hunde lächeln können. Der hier grinst auf jeden Fall, das sehe ich doch.

Zuhause angekommen, gehe ich nicht ins Haus hinein, weil ich ahne, dass mein Mann im Garten ist. Ich laufe die Treppe hinauf. Ja, klar ist er da. Er arbeitet am Handy. Corona-Krise halt. Ich sehe mich im Garten um. Wie schön.

Und obwohl sich keines der Probleme in Luft aufgelöst hat und die Welt wie gestern in Kummer versinkt, ist alles in bester Ordnung.

Ich denke mir, das Glück ist definitiv nicht Glückssache.

Das Glück ist Dankbarkeitssache.

Textautorin Maia Egger

Foto: Maia Egger