Wenn es einen zentralen Nutzen für Selbstdisziplin gibt, dann ist das die Fähigkeit, über sich selbst hinauszuwachsen und zu einer besseren Version von sich selbst zu werden. Menschen, die die Selbstdisziplin dauerhaft praktizieren, haben diese Entwicklung zum Selbstzweck auserkoren.

Und die Mission hört nie auf. Man kann behaupten, dass die Selbstdisziplin dann gewirkt hat, wenn sie nicht mehr gebraucht wird. Weil sie zum Dauerzustand und somit zum Bestandteil der Persönlichkeit geworden ist. Sie wurde ver-Wert-et.

Werte, die uns zu besseren Menschen heranwachsen lassen, sind nützliche Werte. Ich schreibe über die Werte, über die die Welt nicht mehr streiten muss, weil sie dem Selbsterkenntnisprozess so offensichtlich nützlich sind, dass es zu einem Konsens auf der Welt geführt hat. Wir haben jede Menge solcher Werte: Ehrlichkeit, Nächstenliebe, Achtung und Respekt vor dem Leben. Das hat uns als Menschheitsfamilie näher zusammenrücken lassen. Die Welt darf bunt sein.

Diese Entwicklung lässt mich zuversichtlich in die Zukunft blicken.

Aber es gibt eine Kluft zwischen dem, was wir für Wohl halten, und dem, wie wir uns wohl doch verhalten.

Warum ist das so? Ich mache dafür die Reflexionsfähigkeit verantwortlich.

Man kann nur etwas verändern, was man wahrgenommen hat und worüber man nachgedacht hat. Über etwas nachdenken kann man nur dann, wenn etwas da ist. Etwas ist da, wenn es sichtbar gemacht worden ist. Sichtbar ist etwas, wenn es getan wurde.

Der Beginn der Reflexion also ist das Ende des unbewussten Handelns. Dies ist sogar die Voraussetzung dafür!

Reflektieren beinhaltet die geistige Bewegung vom Beobachtungssubjekt zum Beobachtungsobjekt und zurück. Ein Pendelgedanke, der im Prozess der Beobachtung von der Neugier zum Verständnis führt.

Dazu braucht man zwei Dinge: Offenheit und Empathie. Die Konsequenz solcher geistigen Pendelbewegungen führt zu einem äußerst ausgeprägten Realitätssinn.

Genau dieser Realitätssinn lässt mich mit einer tiefen Traurigkeit auf die Echtzeit blicken.

Die Welt ist doch schwarz-weiß. Und zwar deshalb, weil wir so über die Welt entschieden haben. Wir alle als Kollektiv haben uns entschieden: Es gibt das Böse und das Gute. Und wir halten uns an dieser Idee fest, wie eine in einer Wasserpfütze untergehende Ameise an einem Strohhalm.

Das Interessante an unserem Schwarz-Weiß-Denken ist, dass es – abhängig von der Gesellschaftsform – jeweils etwas anderes dahinter meint. Wir sind uns hier ganz und gar nicht einig.

Betrachten wir unsere Menschheitsgeschichte wie in einem Langzeitfilm, dann stellen wir mühelos fest, dass wir manches, was wir früher für das Böse gehalten haben, heute für das Gute halten und vice versa. Wir widersprechen uns selbst andauernd. Wie wollen wir untereinander Einigkeit finden?

Nun, es gibt einen Punkt, in dem wir uns alle einig sind. Alle, ausnahmslos alle, bedienen sich dieser zwei Extreme, wie Gut und Böse, um die gesellschaftliche Ordnung zu erhalten.

Worauf basiert diese Ordnung?

Werte. Manche sind sogar bereit, für ihre Werte zu sterben oder jemandes Leben dafür zu opfern. Unsere Werte befinden sich in diesem Schwarz-Weiß-Frame.

Ein Rahmen, in dem wir uns gerne einfinden dürfen. Von etwas bis zu etwas zu denken, das geht. Aber niemals darüber hinaus – und schon gar nicht ohne den Gut-und-Böse-Rahmen.

Das ist irgendwie auch verständlich. Wie soll man überhaupt Werte haben, wenn wir keine Extreme für Gut und Böse definieren? Das ist eine Hilfestellung für unsere Gehirne, und das ist nützlich so.

Wo liegt dann das Problem?

Unser Geherin ist eine Bibliothek für Worte, Bilder und Lebensfilme. Was Bilder sind, ist jedem klar. Die bewegten Bilder sind Filme. Aber halt! Was sind bitteschön Worte?

Wie entsteht ein Wort? Ein Mensch richtet auf ein Ereignis, ein Objekt oder eine Handlung sein Bewusstsein und nimmt etwas wahr, was bisher in dieser Form noch nicht in Worte gefasst wurde.  Dann versucht er seine Wahrnehmung auszuloten, indem er nach Bestätigung von außerhalb sucht. Er „befragt“ die anderen Menschen dazu. Kommt es zu einer großflächigen Übereinstimmung der Referenzpunkte, wird ein neuer Begriff kreiert.

Das neue Wort ist geboren. Der Restweg von der Anerkennung bis zur Legitimierung des Wortes ist nur mehr eine Formalitätsfrage.

Kurz gesagt, vergeben wir Etiketten für gewisse Vorgänge und Beobachtungen, um die Denkprozesse für Wortnutzer zu verkürzen. Auch das ist eine Hilfestellung für das Gehirn, und auch das ist nützlich so.

Ich schlussfolgere aber daraus, dass Worte in erster Linie Denkprozessverkürzungen sind und keineswegs ein Kommunikationsmittel per se. Sie entstehen immer post factum und müssen durch das Bewusstsein der Öffentlichkeit und durch Legitimationsmechanismen einer Gesellschaft hindurch.

Ich schlussfolgere weiter: Was nicht be-Wort-et wurde und daher nicht be-Wert-et wurde, hat keinen Weg in das öffentliche Bewusstsein gefunden. Es spiegelt sich nicht innerhalb des Gut-und-Böse-Systems wider.

Was ist aber, wenn ein Mensch einen Prozess beobachtet, dem noch keine Begrifflichkeit zugewiesen wurde und demzufolge keine Legitimation erfahren hat und sich in keinem Denkrahmen eingefunden hat?

Ist er ein Spinner? Nein, er steht bloß vor der Herausforderung, einem Farbenblinden die rote Farbe zu beschreiben.

Wann immer solche Menschen auftauchen, nennen wir sie die „Andersdenkenden“. Aber ganz so ist es nicht.

Das sind Andersredende. Das Denken an sich kann bei einem Menschen, zumindest inhaltlich, nicht mitbeobachtet werden. Was möglich ist zu beobachten, sind die Worte und die Taten, wodurch der Mensch auf bestimmte Prozesse aufmerksam zu machen versucht.

Wir alle stehen immer wieder vor so einer Herausforderung, uns – den Farbenblinden – gegenseitig die Prozesse, für die es noch keine Bedeutungszuweisung gibt, zu erklären.

Weil es im Leben gerne kompliziert sein darf: Es geht hier nicht nur darum, dass es Rot, Blau und Grün, sondern dass es ja sogar Hellrot, Tiefblau und Aquamaringrün gibt.

Da redet jemand von etwas, was sich nicht in das eigene Wertekonstrukt fügt. Da redet jemand von etwas, was sich nicht in das gesellschaftliche Wertekonstrukt fügt.

Es bedarf nur weniger Worte, und schon fühlt sich das System bedroht.

Und nun die Frage aller Fragen: Wir gehe ich mit dem Menschen um, der es wagt, an meinem Wertekonstrukt zu rütteln?

Die Selbstdisziplin basiert auf einem Wertegefüge, das sich ständig wandeln soll. Und nichts schmerzt psychisch so sehr, wie das Einreißen eigener Wertemauern, obgleich zugunsten der viel besseren zukünftigen Wertemauern.

Andersdenken und Andersreden – das sind sehr gefährliche Tätigkeiten. Denn nicht immer wird man mit offenen Armen empfangen, wenn man mit Worten, die es noch nicht gibt, die Mauern anderer destabilisiert.

Übrigens, es ist egal, ob man dies mit Absicht getan hat oder nicht. Eine Erkenntnis ist wie ein Trojanisches Pferd und wirkt sich wie ein Erdbeben innerhalb des Wertekonstrukts aus. Der Bote wird dadurch zur Gefahr und oft vorschnell zum „Tode“ verurteilt.

Ja, wir töten die Andersredenden nicht sofort. Wir meiden, hassen, verachten sie oder warnen gar vor ihnen.

„Verschwörungstheoretiker“. Ein Wort, hinter dem eine Denkabkürzung steht, die wir jetzt gerne gehen könnten. Sie impliziert in etwa folgenden Gedankengang: „Das ist ein gefährlicher Bote, der dich mit seiner Idee anstecken könnte, und dann bist du für immer und ewig verloren.“

Ich frage Sie: Sind Sie in Ihrem Wertegefüge so instabil, dass Sie sich sofort bedroht fühlen müssen, wenn jemand etwas behauptet, was nicht in Ihr Weltbild passt?

Ich frage Sie: Sind Sie denn so verschlossen, dass die Botschaft nicht ansatzweise Ihr Interesse wecken könnte, um zumindest zu verstehen, worum es sich bei der Denkweise eines Andersredenden handelt?

Ich frage Sie: Sind Sie denn so empathielos, dass Sie es nicht schaffen, einen Andersredenden zumindest nicht zu hassen? 

Ich frage Sie: Sind Sie geistig so unflexibel, dass Sie nicht hinhören, durchdenken und sich erst dann entscheiden können, ob dies ein Unfug oder doch etwas Nützliches für Sie sein könnte?

Ich frage mich: Können wir Menschen, alle Menschen, in Frieden leben, wenn es ausdrücklich erlaubt und erwünscht ist, Andersredende zu hassen?

Dabei ist es eigentlich völlig egal, ob jemand Recht oder Unrecht hat. Es ist egal, ob er die Wahrheit oder Lügen verbreitet.

Wesentlich ist, wie viel Angst er uns macht, weil jeder von uns, so instabil und Werte-desorientiert ist.

Ich frage Sie: Was ist unsere Antwort auf eine Idee, die uns befremdet: Hass? Verachtung? Ausgrenzung? Vernichtung?

Wie weit wollen wir gehen?

Ist das die Gesellschaft, die wir sein wollen?  

Ich will keinen einzigen Schritt in diese Richtung machen! KEINEN EINZIGEN!

Ich schlage die Nächstenliebe über den Ego-Tod hinaus vor. Radikale Nächstenliebe, gekoppelt mit dem höchst möglichen Eigenverantwortungsgefühl.

Im Grunde haben wir nur vor einer Sache Angst: Sie zerstört unsere Wertestabilität. Stabilität. Sicherheit. Geborgenheit. Überlebenstrieb. Selbsterhaltungstrieb. Todesangst. Ego-Tod. Tod.

Ich verstehe diese Angst. Schließlich, treibt mich eine ganz ähnliche Motivation an, meine Stabilität zu erhalten.

Aber wenn ich ehrlich sein darf: Eine Wertemauer, die nicht imstande ist, Widerstand zu leisten, ist es WERT, eingerissen zu werden, denn sie wackelt.

Bauen Sie sich doch eine neue Wertemauer auf. Was ist schon dabei?

Nehmen Sie den Umstand zum Anlass und werden Sie zur besseren Version Ihrer selbst!

Autorin: Maia Egger

Foto: Tyler Nix on Unsplash